Hutschdorf. Konzentriert greift Jessica (Name geändert) zum Seil, das in gut sechs Metern Höhe an der Kletterwand durch den Haken läuft. Mit geschickten Fingern knotet sie das Seil mit einem doppelten Achterknoten an ihrem Klettergurt fest. Sie schaut nach oben, hält kurz inne, geht die Route nach oben über die verschiedenen Griffe im Kopf noch einmal durch. Und dann greift sie beherzt nach dem ersten Griff, ihre Füße finden Halt. In Windeseile kommt die 46-Jährige voran, sicher und zielstrebig überwindet sie die Strecke bis unter die Hallendecke – immer gesichert durch Werner Wenninger. Er ist der Therapeutische Leiter in der DGD Fachklinik Haus Immanuel – und hatte vor rund zehn Jahren die Idee, therapeutisches Klettern für die suchtkranken Frauen in der Klinik zu etablieren. Und das Angebot wird gut angenommen.
Jessica kam wegen ihrer Alkoholsucht in die Fachklinik. „Ich nutze die Zeit hier auch, um sehr viel in meiner Psyche zu kramen“, sagt sie mit einem reflektierten Lächeln. „Und ich will auch Neues ausprobieren.“ Früher ist sie gerne gewandert, doch eine leichte Gehbehinderung machen ihr lange Strecken unmöglich. „Also habe ich getestet, ob das Klettern etwas für mich ist.“ War es – trotz des Rheumas, das die 46-Jährige plagt. Schnell kamen die ersten Erfolge, „das ist absolut toll für das Selbstbewusstsein“. Sie schwärmt: „Wenn man es bis oben geschafft hat, schüttet das unglaublich tolle Glücksgefühle und Adrenalin aus. Nach der Kletterstunde sind immer alle ganz aufgedreht – wenn wir danach eine andere Therapie haben, strahlen alle wie ein Honigkuchenpferd.“
Mitpatientin Angelika (64, Name ebenfalls geändert) hat sich schon in ihrer Heimatstadt für „Klettern gegen Depressionen“ interessiert. „Aber das Angebot war dermaßen überlaufen, dass ich wieder gegangen bin“, sagt sie. Doch sei sie in jüngeren Jahren durchaus sportlich gewesen – und hat während ihrer Therapie in Hutschdorf nicht lange überlegen müssen, sich im Klettern zu versuchen.
„Anfangs war ich furchtbar nervös, weil ich neben der Sucht auch unter Ängsten leide. Ich hatte Angst vor den Leuten, die dabei waren, und Angst vor der Wand – dass ich vielleicht doch nicht mehr so sportlich bin, wie ich dachte“, sagt sie. Doch das Team der Therapeutinnen und Therapeuten konnte ihr die Ängste nehmen. „Also habe ich ganz langsam begonnen – und es geschafft“, freut sie sich. Doch was fasziniert sie am Klettern? „In der Wand konzentriere ich mich nur auf die Griffe und nur auf die Schritte. Ich bin in einer völlig anderen Welt, alles andere ist nebensächlich.“ In der Wahrnehmung gibt es sonst nur noch Werner Wenninger als Sicherung – und im Zweifel das Kommando „ab“, wenn Angelika das Gefühl hat, dass es nicht mehr weitergeht.
„Dann frage ich aber immer noch einmal nach“, sagt der Therapeutische Leiter. Denn Angstpatienten würden mitunter dazu neigen, schnell aus einer Situation herauszuwollen – „auch, wenn es gerade eigentlich nicht erforderlich ist“, ordnet Wenninger ein. Mit der Frage möchte er erreichen, dass die Patientin reflektiert: Wo bin ich? Kann ich vielleicht noch ein Stück höher? „Ich möchte damit eine Situation herstellen, in der die Patientin spürt, dass die Entscheidung nicht Hals über Kopf getroffen werden muss.“ Wenn sie dann das „ab“ bekräftige, lasse er sie auch herunter. „Doch dann weiß die Patientin, dass sie die Entscheidung bewusst getroffen hat – und nicht aufgrund von Panik. Das hilft auch im Alltag“, sagt Werner Wenninger. Angelika fügt hinzu: „Manchmal gehe ich nach der Frage tatsächlich noch weiter – und bin dann mega-stolz, das geschafft zu haben.“ Zurück bleibt „ein tolles Gefühl: Die Herausforderung bestanden und die Angst überwunden zu haben – das gibt mir viel Kraft“.
Beide Frauen wollen versuchen, das Klettern auch nach ihrer Entlassung in ihr Leben zu integrieren. Denn für sie steht fest: „Durch die Erfolge an der Kletterwand wächst die Erkenntnis, dass man auch andere Dinge schaffen kann“, sagt Angelika. Und Jessica fügt nickend hinzu: „Mir gibt es den Mut, Dinge anzupacken.“
Darin bestärkt Werner Wenninger die Frauen. Er selbst ist mit Ende 20 zum Klettern gekommen. Schnell wurde ihm klar: Der Sport lässt sich für therapeutische Zwecke sehr gut nutzen. Ausschlaggebend dafür waren seine eigenen Erfahrungen, die er während des Kletterns machte, „man kann grundsätzlich mit Bewegung und körperorientierter Arbeit viel erreichen bei einer Therapie“, sagt er. Denn: „Erlebte Erfahrungen wirken nachhaltig.“ Und gerade das Seilklettern biete spezielle Erfahrungen, die Mannschafts- oder Individualsportarten so nicht leisten können. „Zunächst muss ich die Voraussetzungen schaffen, dass das Klettern sicher ist“, sagt Wenninger. „Und auch Vertrauen spielt eine große Rolle: Ich muss mich auf die Person, die mich sichert, verlassen können – weil es mein Leben und meine Gesundheit betrifft.“ Ein Schritt, der vielen der Frauen in der DGD Fachklinik Haus Immanuel aufgrund ihrer Erfahrungen zunächst nicht leichtfällt.
Ist der jedoch geschafft und es kann an die Kletterwand gehen, dann weiß Werner Wenninger: „Das Klettern bringt unsere Patientinnen sehr schnell an ihre emotionalen Themen.“ Depressive Patientinnen seien eventuell zögerlicher, zurückgezogener und gar selbstentwertend, „die trauen sich zunächst häufig nicht, haben mehr Ängste“. Andere Frauen würden rasch über ihre Grenzen gehen, sich quasi nach dem Leistungsprinzip überfordern, „das kann häufig bei Frauen mit Essstörungen der Fall sein“, weiß der 49-Jährige. Anders gelagert sei die Situation bei Patientinnen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, „die zum Beispiel Gewalt erfahren haben und sich immer wieder als hilflos und wenig selbstwirksam erleben. Beim Klettern bietet sich die Möglichkeit zu Aktivität, Selbstkontrolle und Kontrolle über die Situation, was sich zunächst auch ungewohnt und überfordernd anfühlen kann. Daraus entwickelt sich im therapeutischen Prozess die positive Erfahrung, beim Klettern plötzlich wieder in einer aktiven Rolle zu sein“.
Durch das Klettern steigt automatisch auch das Selbstwertgefühl, denn von Anfang verdeutlicht der Therapeutische Leiter seinen Patientinnen: „Ich muss nicht alles schaffen. Das Ziel beim therapeutischen Klettern ist nicht, ganz nach oben zu kommen. Das ist nur ein angenehmer – wenn auch manchmal wichtiger – Nebeneffekt.“
Die Klettereinheiten beginnen – nach den Sicherheitseinweisungen – immer ganz langsam und absolut individuell. „Anfangs klettern die Frauen zum Beispiel nur bis zum ersten Haken, dann gibt es eine Pause. Sie setzen sich an der Wand ins Seil, schnaufen durch und merken dadurch, dass sie von der Person, die sie sichert, gehalten werden.“ Das ist wichtig fürs Vertrauen. „Die Patientin merkt sich, bis an welche Stelle sie gekommen ist. Und in der nächsten Woche schaut sie dann: Was traue ich mir heute zu? Schaffe ich es, so weit wie vorher zu kommen? Oder vielleicht auch weiter? Das lässt sich ganz individuell staffeln.“
Wichtiger als die erreichte Höhe sind das Ausprobieren und das Sammeln von Erfolgserlebnissen – aber auch die Erfahrung, wie man mit Frustration oder wechselnden Stimmungen umgeht. „Das Fokussieren aufs Klettern hilft dabei, dass das Außenherum mit all seinen Sorgen und Belastungen völlig egal ist und in den Hintergrund tritt“, weiß Wenninger. Und auch auf der neurologischen Ebene passiert viel: Durch die körperliche Belastung werden Botenstoffe freigesetzt – „der Endorphin-, Dopamin- und Serotonin-Stoffwechsel verändern sich, was zu Glücksgefühlen führt, das Belohnungszentrum im Gehirn wird aktiviert“.
Momentan sind ist die Klettergruppen indikationsoffen, „aber wir sind dabei, das Klettern konzeptionell zu erweitern und es indikationsspezifisch anzubieten“, sagt Werner Wenninger. Denn je nach den spezifischen Störungsbildern – also etwa Depression, Essstörung oder Ängsten – könne er dann noch gezielter auf die Frauen eingehen und spezifische Probleme offener ansprechen.
Insgesamt gilt bei jedem Kurs: „Die Frauen erleben: Klettern macht Spaß. Das ist immens wichtig, denn sie erleben, dass es Spaß ohne den Einfluss von Suchtmitteln gibt. Das hat eine enorme emotionale Qualität – und die hilft im Alltag außerhalb der Klinik.“