Es ist ein trüb-kalter Novembermorgen. Dick eingepackt steht Patientin Ramona Teufl gemeinsam mit der Sozialpädagogin Lena Küfner vor dem Alpaka-Stall der DGD Fachklinik Haus Immanuel. An einer Alpaka-Handpuppe übt die Patientin, wie sie später dem echten Tier das Halfter anlegt. Mit Tieren kennt sich die 35-Jährige aus, denn schon als Kind hatte sie ein Pferd. Und doch will der erste Versuch mit dem Halfter nicht ganz gelingen. Denn ihre Finger sind ganz schön klamm. Im zweiten Versuch klappt es, mit einem Lächeln verschließt sie das Halfter. Dann gehen beide Frauen durch den leeren Stall auf die angrenzende Freifläche.
Bei dem Geräusch der Schritte hören die Alpakas, die einige Meter entfernt auf der Wiese stehen, auf zu grasen, heben neugierig ihre Köpfe und drehen sich erwartungsvoll zu den „Neuankömmlingen“ um. Gustav-Gotthard, Mats, Romero und Kalle erkennen die vertrauten Gesichter, traben direkt heran. Ramona Teufl strahlt und streichelt die Tiere, legt dann Gustav-Gotthard das Halfter an. Die Alpakas lassen sich das gefallen. Dabei haben die flauschigen Vierbeiner eine wichtige Funktion in der ältesten Suchtklinik Bayerns: Sie sind quasi Co-Therapeuten. Denn sie helfen den suchtkranken Frauen, die in Hutschdorf behandelt werden, dabei, an Tagesstruktur zu gewinnen – eine der Grundlagen für die Rückkehr in den Alltag und in ein suchtfreies Leben.
Eine dieser Frauen ist Ramona Teufl. Schon in frühester Kindheit wurde sie mit Sucht konfrontiert, denn ihre eigene Mutter war suchtkrank, „und ich musste erleben, wie sie in Langzeittherapie ging. Ich hatte also eine sehr bewegte Kindheit“. Dennoch gelang es ihr, eine Ausbildung als Kinderpflegerin zu absolvieren. „Danach habe ich den späteren Vater meines Kindes kennengelernt – dann ging es richtig los mit meiner Sucht.“ Denn durch ihren Lebensgefährten erfuhr sie körperliche und psychische Gewalt, flüchtete in den Rausch der Drogen. Hinzu kamen Schmerzen durch einen Bandscheibenvorfall am Hals, die Ramona Teufl betäuben wollte. Cannabis war die Droge ihrer Wahl, bis diese keine Wahl mehr war, sondern tägliche Sucht. „Ich habe alles schon einmal ausprobiert – Amphetamine und Kokain –, aber Cannabis war meins“, sagt Ramona Teufl. Und auch Alkohol habe sie „in schädlichem Maß“ getrunken, gibt sie offen zu.
Mit 30 Jahren wurde sie schwanger, „ich habe Knall auf Fall aufgehört und eineinhalb Jahre gar nicht konsumiert“ – auch, weil sie ihre Tochter stillte. Doch die Probleme mit dem Kindsvater nahmen wieder zu. „Also habe ich wieder zu Suchtmitteln gegriffen, um aus der Realität zu fliehen.“ Doch Ramona Teufl ist bewusst: So geht es nicht weiter. Sie will ein besseres Leben für sich und ihre Tochter. Also sucht sie sich Hilfe, versucht eine ambulante Therapie – muss diese aber wegen eines Rückfalls abbrechen. Schlimmer noch: Das Jugendamt nimmt ihr das Kind weg. Ramona Teufl begibt sich in eine halbjährige Langzeittherapie, ihre Tochter kann später sogar nachkommen. Und: In der Einrichtung gibt es Pferde als „Co-Therapeuten“, was der Patientin sehr gut gefällt. Sie hält durch, geht danach für ein halbes Jahr in eine Nachsorgeeinrichtung. Sie hält weiter durch. Wird danach von ihrer Mutter abgeholt. „Und auf der Heimfahrt hatte ich einen erneuten Rückfall – diesmal mit Amphetaminen“, sagt sie.
Für Ramona Teufl steht fest: Sie braucht mehr Nachsorge. Und hat nun im DGD Mutter-Kind-Zentrum Rückenwind einen Ort gefunden, der ihr nicht nur die Möglichkeit gibt, an ihrer Sucht zu arbeiten, sondern auch eine sichere Umgebung für ihre Tochter bietet. Die 35-Jährige entschied sich bewusst für dieses Zentrum, auch, „weil es hier Alpakas gibt“, sagt sie lachend.
Doch warum sind die Alpakas in Hutschdorf „vierbeinige Co-Therapeuten“? „Aus mehreren Gründen“, sagt Sozialpädagogin Lena Küfner. So dienen sie zunächst als „Eisbrecher“ für soziale Interaktionen – die tiergestützte Therapie setzt da an, wo menschliche Therapeuten zunächst an eine Grenze stoßen. Eine Erfahrung, die Ramona Teufl bestätigt: Der Umgang mit Tieren ist zunächst oft leichter, „weil Tiere einfach ehrlich sind. Tiere urteilen nicht, und Tiere nehmen einen so, wie man ist. Ich kann mit Tieren einfach besser als mit Menschen.“
Anders als Ramona Teufl sind zunächst viele der Frauen, die in Hutschdorf therapiert werden, ängstlich den größeren Tieren gegenüber, weiß Lena Küfner. Deshalb sei es gut, dass Alpakas zwar neugierige, aber auch distanzierte Tiere sind. „Sie überlassen dem Menschen die Entscheidung, ob eine Annäherung stattfindet oder nicht. Das ist gerade bei suchtkranken Frauen sehr wichtig, da diese häufig in der Vergangenheit unter Grenzüberschreitungen gelitten haben.“ Doch mit jedem Treffen werden die Erfolge größer. Es baut sich Vertrauen auf und bald sogar eine sichere Beziehung zwischen Mensch und Tier. Davon können die Frauen dann stark profitieren. „Sie kommen aus der Not zu uns, und es ist nie nur eine Suchterkrankung, die zu behandeln ist“, erklärt die Sozialpädagogin. Häufig leiden die Patientinnen auch unter Angststörungen oder Depressionen, sind vielleicht traumatisiert, weil sie in ihrer Beziehung Gewalt erfahren haben.
Die Alpakas schaffen da eine sichere Umgebung, „sie bieten emotionale Unterstützung, sind den Frauen Trost, wirken beruhigend. Manchmal reden die Frauen auch mit ihnen – und die Tiere hören unvorbelastet zu. Auch die Kinder lassen ihr Ängste bei den Alpakas“, sagt die Sozialpädagogin. Sind die Frauen bei den Tieren, müssen sie sich die Frage stellen: „Wie muss ich mich verhalten, dass es Mensch und Tier gut geht?“, verdeutlicht Lena Küfner. Denn Alpakas sind sehr sensible Tiere und spiegeln den Menschen, „deshalb ist es wichtig, entspannt zu sein und zur Ruhe zu kommen“. Daher beobachten die Patientinnen die Vierbeiner manchmal auch einfach nur. „Dadurch sind sie ganz bei sich, fokussiert – das bietet Entspannung pur“, sagt die Alpaka-Expertin.
Ein weiteres wichtiges Therapieziel: Die Alpakas helfen dabei, dass die Patientinnen etwas zurück erhalten, was durch die Sucht häufig verloren gegangen ist: Tagesstruktur. „Die Tiere müssen versorgt und ausgeführt, der Stall muss gemistet werden – Aufgaben, für die unsere Patientinnen zuständig sind.“ Das bringt den Frauen nicht nur die Struktur, sondern: „Sie erhalten dadurch im Gegenzug das Gefühl der Wertschätzung. Sie erfahren, dass Sie gebraucht werden“ – Emotionen, die mitunter tief begraben liegen. Zudem werden die Patientinnen durch das Gefühl der Verantwortung angetrieben, sie sorgen gerne für die „flauschigen Therapeuten“.
Das erlebt auch Ramona Teufl: „Die Alpakas geben einen ehrlichen Dank zurück“, sagt sie. Lena Küfner weiß: „Dann treten auch die Probleme der Patientinnen in den Hintergrund: Ihr Fokus liegt auf den Tieren: Wie geht es ihnen? Und wie geht es uns dabei? Gleichzeitig lernen die Frauen, aufmerksam zu sein.“ Die Aktivitäten sorgen auch für das Zusammensein von Mutter und Kind. Das gemeinsame Umsorgen der Tiere oder etwa die Planung eines Parcours fördern die Bindung zwischen Mutter und Kind sowie Mensch und Tier und schaffen Mobilität und Muskelkraft.
Die tiergestützte Therapie mit den Alpakas ist eine der Besonderheiten des Mutter-Kind-Zentrums der Fachklinik Haus Immanuel in Hutschdorf. Das Zentrum ist eine Nachsorgeeinrichtung und zugleich die Vorbereitung auf den Alltag. „Nach einer abgeschlossenen Entwöhnungsbehandlung in der Fachklinik bereitet es oft Bauchschmerzen, die Frauen in ein nicht-stabiles soziales Umfeld zu entlassen – und zu wissen, da hängt ein Kind mit dran“, sagt die Sozialpädagogin.
Im Mutter-Kind-Zentrum können die Patientinnen mindestens ein Jahr lang in einem geschützten Umfeld realitätsnahe Strukturen wieder erlernen. „Das Ziel ist langfristig, dass die Frauen wieder ein eigenständiges Leben führen können“, sagt Lena Küfner. Während die Frauen mit einem detaillierten Wochenplan, in den auch die Alpakas integriert sind, zurück ins Leben finden, werden die Kinder vormittags in der angeschlossenen Kita „Kindernest“ betreut. So, wie auch die Tochter von Ramona Teufl. „Sie fühlt sich dort tierisch wohl“, sagt die 35-Jährige. Nachmittags ist dann „Mama-Kind-Zeit“. In der Vergangenheit hatte die Vierjährige große Probleme, mit ihren Emotionen umzugehen, „sie ist regelmäßig ausgerastet“, sagt Ramona Teufl. Ihre Tochter sei fordernd und habe „Pfeffer im Arsch“, sagt sie liebevoll. In Hutschdorf gehe es dem Mutter-Tochter-Gespann nun viel besser, „ich bin sehr froh, dass ich jetzt hier mit ihr bin und endlich ein Zuhause mit ihr habe“, sagt sie erleichtert.
Während die Mütter ihre Kinder in sicherer Betreuung wissen, können sie sich besser auf das wöchentliche Therapieprogramm einlassen. Zur Wochenplanung gehört etwa, was gemeinsam gekocht werden soll. „Bei diesem Gruppenprozess werden die Patientinnen gefordert, ihre eigenen Bedürfnisse zu äußern. Das ist etwas, was sie häufig gar nicht mehr gewöhnt sind“, weiß die Sozialpädagogin. Suchtnachsorge steht ebenso auf dem Plan, wie „Tiere und Natur“ oder „Genuss ohne Genussmittel Alkohol“. Zudem erhalten die Mütter ein Elternkompetenztraining, in dem der richtige Umgang mit dem Kind und seinen Gefühlen behandelt wird. „Mütter müssen lernen, Druck, Spannungen und Ängste auszuhalten, ohne auf Suchmittel als Entlastung zurückzugreifen“, so Lena Küfner.
Warum geschieht so viel in der Gruppe? „Der Austausch in der Gemeinschaft lässt die Frauen erkennen, dass sie mit ihren Gefühlen, Ängsten und Problemen – auch im Bezug auf die Kinder – nicht alleine sind“, sagt Küfner. Und um Krisen abstinent zu bewältigen, werden die Mütter bei Bedarf unterstützt durch zusätzliche Begleitung in bestimmten, sehr stressigen Situationen.
Das Ziel über allem lautet: Den Alltag bewältigen – ganz ohne Suchtmittel. Und dabei sind die Alpakas wertvolle Co-Therapeuten.